III

 

Ein Monat später.

Mount Paxten war nicht minder geheim wie die Spezialabteilung des United States Marshals Service. Wahrscheinlich wussten die wenigstens, dass es diese Abteilung überhaupt gab. Jene, die für sie arbeiteten, und jene, die das Budget zur Verfügung stellten.

Die Anlage des USMS befand sich in einem Berg, gehauen aus dem massiven Stein, der auch stärksten Angriffen trotzen konnte.

Errichtet hatte die Anlage das US-Militär, um wichtige Personen im Falle eines Nuklearkriegs in Sicherheit bringen zu können. Bilder von der alten Anlage zeigten große Monitore, auf denen anfliegende Raketen ebenso angezeigt werden konnten wie Bilder zerstörter Städte. Ein Raum für Pressekonferenzen war vorhanden gewesen, dazu Konferenzräume, private Bereiche und eine EDV-Anlage, so groß wie ein verdammtes Einfamilienhaus.

Hätte man auf ihr jedoch WoW spielen wollen, wäre sie in die Knie gegangen. Es war wohl leichter, einen Atomkrieg mit Millionen oder Milliarden Opfern zu berechnen, als die Grafik eines MMOs.

Mit dem Ende des Kalten Krieges hatte die Army mehrere dieser geheimen, besonders sicheren Zentren aufgegeben. Manche existierten noch, da man einfach den Schlüssel rumgedreht hatte. Andere waren verkauft worden oder dienten anderen Behörden für deren Zwecke.

Mount Paxton stand nun unter Verwaltung des USMS, war grundlegend renoviert und modernisiert worden und bot einen Luxus, den man tief in einem Berg nicht erwarten würde.

Vor allem aber, so hatte man mir erklärt, bot das die Zentrale umgebende Gestein einen natürlichen Schutz vor PSI-Angriffen jedweder Art.

Die Wochen, in denen ich mich nun schon in Mount Paxton befand, waren nicht spurlos an mir vorübergegangen.

Zum einen hatte man mich sechs Monate Training nachholen lassen, zum anderen waren mehrere Ausbilder bemüht gewesen, mir den besonderen Charakter unserer Aufträge näherzubringen.

Aber erst, als ich hin und wieder mit einem Werwolf ausging und er mir eines Abends zeigte, was für eine Bestie in ihm steckt, hatte ich wirklich begriffen.

Nicht nur, weil ich mit ihm den ersten Sex seit sechs Monaten gehabt hatte und dabei selbst zur Bestie geworden war. Nein – sein Wesen, seine Kraft und vor allem die Gefahr, die von seiner Art ausging, hatten mich wirklich begreifen lassen.

Diese Nacht mit ihm hatte einen deutlich tieferen Eindruck bei mir hinterlassen, als die kleine Demonstration der Vampirin; Second Deputy Director Alice Horn.

Zwei Tage später lehrte mich der Werwolf eine weitere Lektion; auch paranormalen Lebensformen kommt es häufig darauf an, einer Frau an die Wäsche zu gehen. Haben sie ihr Ziel erreicht, verlieren sie das Interesse.

Merke – auch Werwölfe sind elende Machos, denen man hin und wieder einen Tritt in die Eier verpassen sollte! Nur, damit sie wissen, wie es so ist …

 

*

 

»Deputy Marshal Phönix! Bitte melden Sie sich im Büro von Director Redcliff.«

»Deputy Marshal Phönix! Bitte melden Sie sich im Büro von Director Redcliff.«

»Deputy Marshal Phönix! Bitte melden Sie sich im Büro von Director Redcliff. Vielen Dank!«

Die Durchsage endete.

Ich begriff nicht, warum jeder verdammte Befehl zweimal wiederholt wurde, ehe er mit dem unvermeidlichen vielen Dank endete. Ich hatte die Aufforderung schon beim ersten Mal verstanden.

Jeder verstand sie beim ersten Mal – selbst, wenn er unter der Dusche stand oder im kleinen Kino saß, um sich einen Film anzuschauen.

Mount Paxton war sehr viel mehr als nur die Einsatzzentrale der Spezialabteilung. Wer wollte, konnte in ihr wohnen, leben, essen, atmen, sich verlieben und im eigenen Kino Filme schauen. Es gab ein Fitnessstudio, eine Sporthalle, ein Schwimmbad und ein Bar, in der man einen Drink nehmen konnte.

Die Spezialabteilung stand außerhalb des USMS und war doch ein Teil von ihr. Die Deputy Marshals hier waren etwas Besonderes, denn sie kannten und wussten mehr als die meisten Menschen. Darum lebten viele hier, hatten sich zurückgezogen und genossen den Status, den sie besaßen.

Mount Paxton wiederum war das lebende, atmende Herz der Spezialabteilung. Und ich folgte seinem Beat, seit man mich hierher gebracht und mit meiner Ausbildung begonnen hatte.

Ich verließ das Gym, in dem ich meine täglichen Übungen absolvierte, und joggte durch die Gänge zum Verwaltungstrakt der Anlage.

Dort klopfte ich an die Tür zum Büro von Redcliffs Sekretärin, wurde von ihr freundlich begrüßt und in das große, modern eingerichtete und nach Minze duftende Büro des Directors geführt.

Nicht nur er war zugegen, sondern auch Second Deputy Director Alice Horn sowie ein Mann, den ich bislang nicht kannte.

»Lara!«, rief Redcliff, »wie schön. Kommen Sie und nehmen Sie Platz.« Er nickte den anderen zu. »Nun sind wir vollzählig.«

Alice Horn nahm eine Fernbedienung zur Hand und dimmte mit ihr das Licht. Langsam, sehr langsam wurde es dunkel.

»Wie gefällt Ihnen die Einrichtung?«, wollte Redcliff wissen. Er betrieb Smalltalk, bis die Vorbereitungen abgeschlossen waren.

»Besser als die kleine Krankenstation in der USMS-Übergangsstation in Fort Bragg«, erklärte ich. »Hier kann man sich wohlfühlen.«

»Das höre ich gerne. Sie werden also nicht ausziehen?«

Ich dachte an meinen kleinen, gemütlichen Raum. Ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle sowie ein Sessel. Ein kleines Bad mit Dusche, Waschbecken und Toilette und ein TV-Gerät mit Xbox 360, um mir die Zeit zu vertreiben; die Konsole stand bereits in dem Raum, als ich einzog. Wem sie eigentlich gehörte und warum ich in den Genuss dieses Luxus gekommen war, vermochte ich nicht zu sagen.

»Nein, Sir – vorerst nicht. Ich bin es gewohnt, in einer Kaserne zu leben. Sie wissen, dass ich von den Rangers zur CIA versetzt wurde.«

»Schön.« Damit war das Thema erledigt. Zumal Horn inzwischen ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatte.

Rechts von uns war eine Leinwand aus der Decke geglitten. Ein hinter uns an der Wand befestigter Beamer projizierte das Bild eines Mannes auf die weiße Fläche. Ein Hispanic, buschige Augenbrauen, stechender Blick. Seine Lippen waren voll, sein Mund klein und die Nase breit.

Er verströmte den typischen Macho-Charme eines Latinos.

»Ein spezieller Freund dieser Abteilung«, erklärte Horn in ihrem sanften, schwingenden Ton. Ich hatte etwas gebraucht, um dahinterzukommen, aber nun war ich mir sicher, bei ihr den süßlichen Singsang gebildeter Südstaatler zu hören. »Antonio Ramon Pérez. Ein Werwolf und ehemals Führer des Blood & Guts-Rudels.«

»Klingt nicht, als seien das strickende Werwölfe Brooklyns«, ließ sich der mir noch unbekannte Mann zu meiner Linken vernehmen. Dabei lachte er trocken über seinen eigenen Witz.

»Nein, kann man nicht sagen. Das Blut & Guts ist ein boshaftes, gefährliches Rudel, das sich auf Auftragsverbrechen spezialisiert hat. Einschüchterung, Körperverletzung oder auch eine Vergewaltigung.« Horn klang angewidert. »Obwohl das Rudel ziemlich übel ist, schmissen sie Pérez raus – weil er selbst für sie zu boshaft war.«

»Es geht doch nichts über ehrenhafte Kriminelle«, merkte ich sarkastisch an.

»Oh, ein Oxymoron. Die sind dieser Tage selten.« Wieder dieser Singsang von Horn. Diesmal verpackte er einen gewissen Spott.

Redcliff ließ ein kurzes Ha hören, dann deutete er auf die Leinwand. »Wir jagten den Bastard vier Jahre lang. Er tötete sechs unserer Leute, ehe er entkam; wahrscheinlich über die Grenze nach Mexiko. Jetzt sagen die Gerüchte, dass er wieder in den Staaten ist. Durch Zufall stießen wir auf aktuelle Aufnahmen. Demnach hält er sich in New York City auf. Wir wissen nicht, was er da will und warum er zurückgekommen ist.«

»Wir sollen es herausfinden, oder?«, fragte mein Sitznachbar.

Sowohl Horn als auch Redcliff nickten. »Genau. Finden und verhaften Sie ihn. Sollte das nicht möglich sein … Nun ja, die Waffen, die Sie besitzen, sind auch für Werwölfe tödlich.«

»Gut.« Mein Sitznachbar drehte sich zu mir um. »Lara Phönix, nicht wahr? Mein Name ist Deputy Marshal Marc Young. Wir sind ab sofort Partner.« Er grinste schwach. So, als ob es ihm nicht wirklich gefiel.

Horn schaute erst ihn, dann mich an. »Marc ist ein erfahrener Deputy Marshal unserer Abteilung«, erklärte sie nach ein paar Sekunden. »Es ist wichtig, einen Profi an seiner Seite zu haben, wenn man das erste Mal in die Kloake der Twilight Zone steigt.« Sie wandte sich an Marc. »Lara ist nur neu, was unsere Abteilung betrifft. Sie war der jüngste Captain der United States Army Rangers und eine geachtete Agentin der Agency. Sie beherrscht verschiedene Nahkampftechniken, hatte als Kind und Jugendliche Fechtunterricht und ist ausgebildete Scharfschützin. In Afghanistan machte sie von sich reden, als sie lautlos, nur mit einer Armbrust, mehrere Wachen eines Taliban-Camps ausschaltete.«

Young kniff die Augen zusammen. »Captain Lara Meyer, United States Army Rangers. Ich dachte doch, dass ich dich kenne. Ich dachte, sie hätten dir Gift in die Vene gepumpt, nachdem du unsere Freunde …«

»Sie stand unter vampirischem Bann und wusste nicht, was sie tat. Darum ist sie hier«, fiel ihm Redcliff ins Wort. »Lara hat ihr Leben im Gefängnis verloren, aber hier ein neues bekommen. Es gibt keine Schuld, die sie abzutragen hätte.«

Young nickte. »Ja, das kann passieren.« Er lächelte wieder. »Also, Partnerin Kriegsheld. Auf gute Zusammenarbeit.«

Ich ergriff die dargebotene Hand und erwiderte sein Lächeln. »Auf gute Zusammenarbeit, Deputy Marshal Young.«

Wir verließen das Büro, da alles gesagt war. Young wusste, wie es nun weiterging – ich hingegen nicht.

Er bemerkte meine Unsicherheit. »Du packst deine Sachen und kommst in einer halben Stunde zum Heli-Port. Dort bekommen wir Tickets und letzte Instruktionen, fliegen nach Bangor und von dort in den Big Apple. Wir sind Polizisten und verhalten uns auch so.«

»Gut.« Ich schaute an mir herab. »Ich brauche eine Dusche, denn ich war im Gym, als die Durchsage erklang. Außerdem …«

»Ja?«, fragte er.

»Ich habe nicht sehr viel, was ich packen könnte, denn bislang besitze ich nur wenig Wäsche. Zwei Hosen, eine Bluse und ein Shirt. All mein Habe blieb zurück, als Lara Meyer exekutiert wurde.«

In diesem Moment schien er zu begreifen, was genau meine Situation bedeutete. »Ist hart, wie?«

»Ziemlich. Zum Glück habe ich einen Kredit eingeräumt bekommen; ich kann also einkaufen. Hey, wir fliegen in den Big Apple. Wo kann man besser shoppen?«

»Großartig!«, seufzte er theatralisch. »Kaum arbeite ich mit einer Frau zusammen, schon spricht sie von Boutiquen, Schuhgeschäften und Dessous.«

»Dessous?«, fragte ich erstaunt.

Er grinste. »Ich dachte, das gehört dazu. Nun ja, ich kann dich beraten. In diesem Bereich kenne ich mich sehr gut aus …«